Donnerstag, 13. August 2009

Juni - Beginn der Badesaison. Die Uhren im Salento werden umgestellt


Juni im Salento, Beginn der Badesaison. Die Uhren im Salento werden umgestellt


Ich habe ja ein ganz schlechtes Gewissen….da schreibe und schreibe und schreibe ich über den Mai im Salento und vergesse vollkommen, was ich Ihnen zu erzählen noch versprochen hatte …nämlich über die Veranstaltung „Palazzi aperti“ in Lecce. Erlauben Sie mir, das hier nachzuholen, obwohl wir schon im Juni sind.

Am 2. Maisonntag gab es schon zum 7. Mal „Palazzi aperti“ in Lecce. Sie wissen sicher, dass wir “palazzi” nicht mit “Paläste” übersetzen. Palazzi sind
Patrizierhäuser. Es gibt sie seit dem Mittelalter und sie finden ihre höchste Konzentration in der Renaissance und im Barock. Ihr Aufbau orientiert sich stark an einer römischen Domus, sie sind aber im Gegensatz zu dieser fast immer mehrgeschossig. Heute wohnen in den Palazzi in der Innenstadt von Lecce vorwiegend die alten Adelsfamilien, Anwälte und Ärzte. Hat sich also nicht viel geändert. Die Palazzi haben fast immer an der Vorderfassade mittig ein großes, zweiflügliges Tor und dahinter liegt ein Innenhof. Ich kann Ihnen sagen, diese Innenhöfe haben es in sich. Sie sind Ausdruck der Liebe der Besitzer zu ihren Gebäuden: Sorgfältig angelegte und beblumte Balustraden, Kaskaden von Hängepflanzen oder wanddeckende
Rankende erfüllen diese kleinen abgeschlossenen Paradiese mit herrlichen und betörenden Düften des Jasmin, in ihren grünen Verkleidungen finden tausende von Spatzen und in dieser Jahreszeit auch Schwalben ihre Wohnung.Herrschaftliche Aufgänge führen zu verschiedenen Wohnungen, fast immer beherbergen diese Innenhöfe auch fantastische Dachterrassen, die man von außen nicht vermuten würde. Diese sind wiederum mit hochschießenden Palmen, Oleandersträuchern und blühenden Bougainvilla, Campsis und Clematis bepflanzt.

Einmal im Jahr öffnen die Besitzer in Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung ihr Allerheiligstes für die Öffentlichkeit. Natürlich dann, wenn die Innenhöfe und Innengärten am Schönsten sind. Im Mai, wie gesagt. In manche Wohnungen darf man sogar hineinspicken. Vor allem, wenn es sich um ein B&B handelte, dessen Zimmer gerade nicht belegt sind. Auch die Einrichtung stellt sich mit viel Sorgfalt und ausgesuchtem Geschmack dar. Zu Beginn des Rundgangs bekommt man eine Art Stadtplan, auf dem alle geöffneten Palazzi mit Namen und Adresse aufgezeichnet sind. Dann kann man sich diese einer nach dem anderen in Ruhe ansehen. In vielen Innenhöfen spielen zu dieser Gelegenheit Trios, oder kleinere Orchester oder es gibt Ein-Mann bzw. Ein-Frau-Performances. Die meisten dieser Palazzi sind so besonders, dass es sich lohnt, den jungen Frauen und Männern des klassischen Gymnasiums Virgilio zuzuhören, die bei kurzen Führungen mit viel Engagement von der Geschichte, den Bewohnern, den Epochen der jeweiligen Palazzi erzählen. Leider, leider wird dort Deutsch nicht gelehrt, daher nur auf Italienisch. Ich habe mir aber einiges bemerkenswerte aufgeschrieben, damit ich es Ihnen, falls Sie sich während Ihres Salento-Aufenthaltes von mir führen lassen, weitergeben kann.

Der Juni ist im Salento vor allem eines: Sommerbeginn! Beginn der Badesaison.
Die Schule endet in Italien immer nach der ersten Juniwoche. Dann ist endgültig Sommer, wenn’s rein kalendarisch auch noch einige Tage hin ist. Man sieht vor allem hier in den kleinen Orten kleine Ape (Sie wissen schon, die dreirädrigen Mini-Pick-ups) voll bepackt mit Möbeln in Richtung Meer fahren: Alles, was Wert besitzt oder während des feuchten Winters am Strandhaus muffig werden könnte, wird wieder „al mare“ gekarrt: Kühlschrank, 1 bis 2 Fernseher, Matratzen, Kissen usw usw. Fast alle ehemaligen Bauernfamilien haben hier schon seit den 70ger Jahren in Immobilie investiert. Ja klar, die Bauernschläue gibt’s auch auf der ganzen Welt. Damals konnte man die unfruchtbaren Grundstücke unmittelbar am Meer noch für ‚n Appel und ‚n Ei erwerben, da der Anbau von Gemüse sich als schwierig gestaltete: Die Tiefbrunnen für die Bewässerung sind Richtung Meer immer saliner, d.h. zu salzig und nicht mehr zur Bewässerung geeignet. Was toll wächst, ist Wein! Aber das war das Privileg der „Don“, also der Großgrundbesitzer in der damalig noch fast feudalen Gesellschaftsstruktur des Salento. Die Reben brachten den Bauern unmittelbar zu wenig Einkommen, um wirklich interessant zu sein. Das war auch die Zeit, in der die damaligen Söhne genug davon hatten, so sehr zu schuften und fast nichts dafür zu bekommen. Die Gastarbeiter, die in Mitteleuropa als harte Arbeiter galten, kannten von zuhause nichts anderes. In der Ferne genauso hart zu arbeiten hatte den Vorteil, genug zu verdienen, um sich selbst zu versorgen und so viel wie möglich an die Familie schicken zu können. Die alten Hiergebliebenen waren nicht müßig, dieses Geld gut zu investieren. Fast alle noch so bescheidenen Bauernfamilien haben sich im Laufe der Jahre sowohl ein Haus im Landesinnern, im Ort bauen können (fast alles in Eigenleistung, versteht sich), als auch in Grundbesitz investiert, beispielsweise eben direkt am Meer, was sich wenig später in den 70ger Jahren als Goldgrube herausstellte. Ohne jegliche Infrastruktur wuchsen hier die ersten Häuseragglomerate. Erst viel später haben die Gemeinden reagiert und nachgebessert. Die Acquädukt -Leitungen wurden in vielen „Marine“ sogar erst in den späten 90ger Jahren gelegt. „Marina“ bedeutet übrigens, dass der Badeort keine eigene Verwaltung besitzt, sondern von einem Ort im Landesinnern mitverwaltet wird, sozusagen als Außenbezirk. Meistens sind diese kleinen Bauerndörfer aber nicht sehr weit vom Meer entfernt.

Ich war beim Umzug….Sie können sich vorstellen, dass der Winter hier in den „Marine“ seinen eigenen Reiz hat: Außer wenigen Familien sind die Orte menschenleer. Häuserwüsten, zwischen denen ausgesetzte Hunde die Wintersonne mitten auf der Strasse ungestört genießen können. Es gibt nur einen Tante-Emma-Laden auf der kleinen Piazza, der ganzjährig geöffnet hat und wenn am Nachmittag die Handwerker, die zu Ausbesserungsarbeiten oder Neubauten bestellt wurden, abziehen, kann man ungestört durch die Strassen und Wege streifen…Allerdings: ohne Auto ist man hier absolut aufgeschmissen!

Na, die Einsamkeit der Marine hat im Juni erst mal ein Ende. Immer mehr Fensterläden öffnen sich, Türen und Fenster werden aufgerissen, es wird geputzt, eingeräumt und man lässt sich häuslich nieder. Ende Juni öffnen auch der Supermarkt, der Tabakladen und die Kioske. Man fragt mich aus dem Ausland immer wieder verärgert, warum denn zur Vorsaison nichts geöffnet habe, das sei doch fremdenverkehrsfeindlich! Recht haben Sie. Allerdings muss man sehen, warum: Die salentinischen Marine-Badeorte sind ursprünglich nicht auf den Fremdenverkehr ausgerichtet gewesen. Kein Mensch hätte damals vermutet, dass es den Touristen dort gefallen könnte, wo die Jungen die Flucht in Richtung Norden ergreifen. Das Meer an sich wurde als Erfrischung, nicht unbedingt als landschaftliches Kleinod angesehen. Es waren Zweithäuser, die für 3 Monate den Hiesigen dienten. Nach und nach hat man in den 80ger und 90ger Jahren gemerkt, dass man vielleicht das Untergeschoss oder nebenan ausbauen könnte, um zu vermieten. Aber Sie wissen, die Italiener machen im Juli manchmal und im August sicher Urlaub. Die Strukturen ließen es einfach nicht zu, anders zu wirtschaften. Das hat aber auch seinen Reiz, glauben Sie mir. Dort, wo Italien am italienischsten ist, da kann man nicht von Vorsaison sprechen! Die gibt’s schlicht nicht! Natürlich wünschen sich die Kreisverwaltung und auch die Gemeinden gemeinsam mit den Einzelhändlern, dass sich dies ändert. Das nennen sie neuerdings: De-stagionizzazione (also Ent-Saisonierung). Aber es lohnt sich für die wenigen ausländischen Gäste nicht, alle Geschäfte schon im April zu öffnen, wenn das Gros der Italiener noch voll im „Wintertrott“ ist und nicht im Traum ans Umziehen ins Sommerhaus denkt. Ich bitte Sie aber, zu bedenken, dass dies nur für die kleinen „Marine“ gilt, keinesfalls für eigenständige Küstenstädte! Und selbst in diesen kleinen „Marine“ hat die Vorsaison ihren Reiz. Sie sind fast alleine, aber zum italienisch-liebenswerten Chaos ins nächste Dorf oder in die nächste Kleinstadt sind’s meist nur knapp 7km!!!

Das überschäumende Chaos des Vormittags und des Abend zieht sich hinter den langen Vorhang des Nichtstuns und der Ruhe zurück…..“La Controra del sud“ Die Gegenstunde des Südens


Es handelt sich um pures Nichtstun. Wenn Sie wirklich ein Gegenstück zur Hektik des Lebens finden wollen – Sie finden es in den sonnig-heißen, nicht enden wollenden Nachmittagsstunden des Südens, in denen man bleich und halb betäubt an einer glühenden Gartenmauer gelehnt oder auf den Bänken im Schatten des Stadtparks sitzen kann, die eine Art Wartesaal zum „Camposanto“, zum Friedhof bedeuten…Die Alten, die nicht mehr zur Bank des Stadtparks kommen, um die letzten Sonnenstrahlen ihres Lebens zu genießen sind schon jenseits des Eisentores, dessen Eingang den Namen des Vergessens bedeutet. Die „Controra“, also die Gegenstunde, ist die Herrlichkeit des Südens, aber vielleicht auch sein schlimmstes Laster. Das Leben bleibt mitten am Tag plötzlich für 3-4 Stunden einfach stehen. Das überschäumende Chaos des Vormittags und des Abends, der stete Lärm, beredetes Hupen, unermüdliches Sprechen, theatralisches Schreien und Gestikulieren zieht sich hinter den langen Vorhang des Nichtstuns und der Ruhe zurück.In diesen Stunden findet man es: Das strahlende Nichts, das goldene Sich-der-Hitze-ergeben, die Verdauung abwarten; das ist sie, die antike Flaute des Südens. Selbst die eigenen Bewegungen werden phlegmatischer.

Sogar Chirac hatte seinerzeit ein Vorwort zu „Elegie an die Siesta“ von Bruno Comby geschrieben. Die Siesta ist die spanische Variante der „Controra“, die in Mexiko sogar noch weiter getrieben wird. Nicht umsonst „spanisiert“ der Süden Italiens stark. Die südlichen Mittelmeerländer ähneln sich sehr in ihren Tageszeiten, den späten Abendessen, für mitteleuropäische Begriffe schon fast „Nachtessen“, dem übermäßigen Verzehr von Brot bei Tisch, der Öffnungszeiten der Geschäfte, die spät öffnen und schließen. Weil die Macht der „Controra“ größer ist als jede gewerkschaftliche Bestimmung: Die Geschäfte öffnen hier abends wieder, wenn sie in Mitteleuropa schon zusammenpacken, um bald zu schließen. Wie viel Leben zerrinnt in der Controra…, wie viele Stunden verschwendet, um ein bisschen regenerierenden Schatten, einen kühlenden Windhauch zu finden, eine endlose Granita zu trinken, oder ein Bett, um darin in tiefen, traumlosen, heißen Schlaf zu fallen oder verschwitzten, sündhaften Sex zu haben. Die Erinnerung meines Mannes der 70iger und 80ger Jahre sieht unendlich viele sonnige, glühende Nachmittage, die Dorfjugend auf den Stufen der Kirche oder unter einem Baum im Schatten faulenzend, nichts tunend, Musik hörend und in der Hitze lungernd. Hier war die Elegie der Langsamkeit nicht Literatur, sondern tägliche Wirklichkeit – besser: nachmittägliche Wirklichkeit.

Während der „Controra“ kann man nicht brüsk, schnell oder unternehmungslustig sein, das wäre öffentliche Ruhestörung, oder öffentliche Flaute-Störung: Man kann niemanden anrufen, bei niemandem vorbeisehen, den man nicht vorher avisiert hat, weil es gar so wichtig ist, das wäre Profanierung der Ruhe. Die aktivsten findet man dabei, ihr Auto nach Dellen oder Schmutz abzusuchen, oder man findet sie in der „Campagna“ des Vaters oder Großvaters, unter den Obstbäumen nach reifen Früchten suchend, die sie vorsichtig abtasten, um ihren Reifegrad bestimmen zu können, also keine wirklich produktiven Aktivitäten in den Nachmittagsstunden, höchstens ornamentale, ästhetische Beschäftigungen. Während der Nachmittagsstunden holt man den erhitzten Nachtschlaf nach, der so kurz war aufgrund endloser Abendessen, die bis in die „ore piccole“ – die kleinen Stunden (also die nach Mitternacht (klein – eins, zwei…) dauerten, man kümmert sich um seine schwierige Verdauung, weil die Wassermelonen, die man nach dem Mittagessen verspeist hat, noch im Magen schwimmen und Mattheit verursachen. „Die „controra“ war noch vor ein paar Jahrzehnten die Revanche des Südens über den Calvinismus“, wie der aus Bisceglie, Provinz Bitonto, Apulien stammende Journalist und Buchautor Marcello Veneziani vor einigen Jahren schrieb: „Sogar die Unternehmer aus dem Norden erkennen die Notwendigkeit, im heissen Sommer des Südens eine regenerative Pause einzulegen, um mehr leisten zu können." Auch der ehemalige ENEL-Manager (staatliche Stromgesellschaft) Franco Tatò erinnert in seinem Buch „La Puglia non è la California“ (Apulien ist nicht Kalifornien) daran, dass er die nachmittäglichen Stunden im heimischen Barletta darauf verwendet hat, sich dem Müßiggang hinzugeben oder mit einer Sondererlaubnis die verwaisten Bibliotheken aufzusuchen: „Die wahre Wasserscheide zwischen dem italienischen Süden, der den Süden verlässt und demjenigen, der im Süden bleibt verläuft auf dem Grat der Controra. Dort verläuft die Grenzlinie zwischen denjenigen, die diese Stunden genutzt haben, um zu lernen, um zu tun, um Wissen anzuhäufen, und denen, die der südlichen Natur und Tradition gemäß die Zeit vergeudet haben und den Regeln der Controra gefolgt sind. Der Süden teilt sich in Kinder der Stunde und Kinder der Gegenstunde, oder besser Kinder der eigenen Zeit und Kinder der Zeit des eigenen Ortes, nec-otium et otium. Aber für alle gemeinsam ist der Name des Südens – „Sud“ auf Italienisch. Das kommt von „sudare“ – schwitzen: entweder wegen der verrichteten Arbeit oder wegen der Hitze, der Schweiß ist die primitive Spur des Südens, die den Klimaanlagen und der Globalisierung entwischt ist….Denn genaugenommen ist der beißende Achselgeruch und die intensiven Gerüche des Nachmittags allen Süden der Welt gemein.“

Natürlich vergeht die Zeit im Süden genau wie anderswo….die Dinge ändern sich auch hier genau wie an anderen Orten der Welt. Auch der Süden passt sich an. Aber in der Ruhe der Controra taucht die alte Seele des Südens wieder auf. Man findet saubere Häuser und schmutzige Strassen, beide Gegensätze nur von einem Vorhang vor der Eingangstür geteilt, der sich im Wind bläht. Vor Anbruch der Controra verlassen die Gelegenheits-Badenden den Strand, um nach Hause zu gehen, während die Karawanen von 2 bis 92jährigen, die aus dem Landesinneren zum Ausflug ans Meer gekommen sind, am Strand zurück bleiben: Großfamilien in mehreren Autos, was es heute auch nicht mehr oder fast nicht mehr gibt: Vier Generationen, die sich die Lasagna-Ofenform teilen und bei deren Abzug am Abend Tomatenschalen und abgelutschte Melonenscheiben, Abfalltüten und verstreute Dosen zurückbleiben….weil man im Süden auch noch Obst nach dem Essen geniesst, was wiederum unter vielen Lastern eine Tugend des Südens ist, die noch nicht verlorengegangen ist.

Das Meer ist für die Leute aus dem Süden gratis, Eintritt zu Strandbädern oder Parkplatzgebühren zu bezahlen ist wider die Natur. Am Meer sitzt die Nonna (Oma) auf einem Stuhl, die Enkel drücken sich auf den Steinen zusammen, die Mädchen und jungen Frauen liegen auf einem Handtuch in der Sonne und die Mammas stehen und verteilen Ohrfeigen-Rationen oder schleudern ihren Kindern , die ins Wasser wollen, obwohl sie vor Kurzem gegessen haben, Schimpftiraden entgegen. „Non si fa il bagno nella controra“ (während der Controra geht man nicht ins Wasser) orakelt die Nonna, deren düstere Warnung immer öfter in den Wind geschlagen wird…

Großfamilien werden aber auch immer weniger, Kinder bekommen ist teuer, fast nicht mehr finanzierbar, denn Arbeit bekommt das „junge“ Paar, wenn’s gut geht, mit Mitte Dreißig. Und dann fast immer nur Zeitverträge. Die Mütter müssen zuarbeiten, das Einkommen des Familienvaters reicht nicht mehr für 2 oder 3 Autos in der Familie (nicht UNBEDINGT ein Luxus, oft Notwendigkeit, mangels eines funktionierenden öffentlichen Verkehrsnetzes in der Provinz), unzählige Handys, Modell letzter Schrei (Luxus nur für Mitteleuropäer. Für Italiener ein unabdingbares Statussymbol), Flachbildschirm-Fernsehern und was sonst noch so alles zum modernen Leben gehört, nicht zuletzt teure Ausbildungen der Kinder. Die ist hier nämlich nicht ganz so kostenlos, wie es zunächst aussieht: Schulbücher müssen bezahlt werden, wenn es auch einen florierenden Gebrauchtmarkt gibt und private oder öffentliche Transportmittel kosten auch Geld, und dann sind die Kinder noch nicht auf der Uni….eines von 2 Kindern absolviert recht oder schlecht die höhere Schule und geht studieren, auch wenn es später nicht unbedingt in derselben Branche arbeitet. Aber für die staatlichen Concorsi (eine Art schriftlicher Wettbewerb um Arbeitsplätze beim Staat, die natürlich umso beliebter sind, desto weniger private Industrie existiert) braucht man eine höhere Schulbildung, wenn nicht sogar Hochschulbildung.

Im Gegensatz zur mitteleuropäischen, restlichen Welt, in der die Mütter permanent auf Diät sind, während ihre Kinder bereits an ernährungsbedingter Fettleibigkeit leiden, passiert im Süden das Gegenteil: Man kann noch Mamme (Plural von Mamma, denn eine kommt selten allein) finden, die schon verformt sind, noch bevor sie vierzig werden und deren Kinder dafür dünn wie Bohnenstangen sind, trotz mediterraner Ernährung. Diese Frauen werden „FaCaldo“ genannt (es ist heiss), weil sie unter der Hitze leiden und Hitze ausstrahlen. Und in diesen vom Aussterben mehr als bedrohten Menschengruppen findet man noch eine Figur, die im Norden Italiens und Mittel- und Nordeuropa schon fast verschwunden ist: Den Cousin. Hier gibt’s Cousins und Cousinen noch und man lebt intensiv miteinander. Wie ich im Mai schon erzählt hatte, ist des Südens krisensichere und fast alleinige Industrie die der Hochzeiten, Erstkommunionen, Firmungen, Taufen. Diese Feste festigen die Familienbande: Die Tausende, die aus den Gästen und den Gastgebern und Gefeierten gequetscht werden liegen eigentlich außerhalb ihrer Möglichkeiten. Wenn man im Süden weniger in den Urlaub fährt, dann liegt das nicht nur an mangelnden finanziellen Ressourcen, oder an Trägheit, sondern auch daran, dass vor allem im Sommer immer eine Feier ansteht, an der man teilnehmen sollte. Während diesen nicht endenden Fressgelagen ist selbst die Controra für einen Tag ausgesetzt.

Wenn Sie nun meinen, dieser Süden würde genauso noch bestehen, muss ich Sie enttäuschen. Er verschwindet in der oben beschriebenen Weise von Jahr zu Jahr mehr. Treffen werden um 3 Uhr nachmittags angesetzt, Kurse beginnen um 4 Uhr, fast alle Geschäfte sind inzwischen klimatisiert. Das bedeutet, man kann den Angestellten zumuten, in der größten Hitze des Nachmittags hinter dem Tresen oder sonst wo zu arbeiten. Meine Kosmetikerin arbeitet auch an 4 von 6 Tagen in der Woche über die Mittagszeit durch. Nur im Juni, wenn zum ersten Mal im Jahr 35 Grad erreicht werden und man noch nicht wie im Juli oder August daran gewöhnt ist, da gibt es sie noch, die Controra…Trägheit, die mitreißt. Das ist schon ein Oximoron, wenn Sie aber im Juni den Salento besuchen, dann können Sie noch müßig gehen, dann können Sie die Ruhe zwischen vormittäglichem Chaos und abendlicher Geschäftigkeit noch spüren…es gibt sie noch, die Controra. Grazie al Cielo – dem Himmel sei Dank.

San Pietro e Paolo in Galatina. Tarantate auf der Bühne


Unter vielen kleinen und größeren Festen im Monat Juni im Salento bedarf eines der näheren Betrachtung, denn wenn der Sommer längst begonnen hat und schwer zusetzt, begeht der Salento das Fest der Heiligen Apostel Peter und Paul. Viele Kirchen im Salento sind dem einen, dem anderen oder auch beiden Aposteln gewidmet. Das saleninischste Fest von allen aber findet in Galatina statt, einer Stadt mit 28.000 Einwohnern. Sie liegt ziemlich genau im Herzen des Salento zwischen der Adria und dem ionischen Meer. Auch Galatinas Stadtpatrone sind die Apostel Peter und Paul. Ihr Fest findet am 28., 29. und 30. Juni statt. Beide haben sichtbare Zeichen ihrer Präsenz in der Stadt hinterlassen. Der heilige Paulus war Gast eines Bürgers von Galatina und hinterließ ihm und seinen Nachkommen aus Dankbarkeit für die erwiesene Gastfreundschaft angeblich die Gabe, alle Personen, die vom Tarantel-Biss befallen waren und die sich an sie wandten, zu heilen.
Es scheint für die Salentiner erwiesen und sie sind felsenfest davon überzeugt, dass auch der heilige Petrus wirklich hier war. Er machte hier wohl 42 nach Christus auf der Rückkehr seiner Reise von Antiochia Halt. Um ihn zu ehren wurde die Mutterkirche in Galatina ihm gewidmet. In den vergangenen Jahrhunderten gab es sogar eine Zeit, in der Galatina sich selbst umbenannt hat in San Pietro in Galatina. In der Mutterkirche liegt sogar noch der Stein, auf dem der müde Heilige sich zur Ruhe bettete. Warum ausgerechnet ein Stein und nicht Stroh, ist leicht zu erklären: Das hätte nicht als Erinnerung herhalten können…(wieder mal so eine Thomas-Bemerkung von mir, ich weiss…).


Hingegen die Paulus-Kappelle in Galatina gehört zum Palazzo Tondi-Vignola. Sie ist seit Jahrhunderten berühmt für ihre Verbindung zum ältesten Phänomen, das in der „Terra d’Otranto“, frühere Bezeichnung des Gebiets des heutigen Salento, ansässig ist, nämlich des Phänomens des Tarantismus:
Dieser basiert auf altem Volksglauben, nach dem der Biss der Tarantel (einer eigentlich fast ungiftigen Spinnenart) eine Art Besessenheit auslöste, die vor allem die Frauen in früheren Zeiten befiel. Mit herkömmlichen medizinischen Kenntnissen war diese „Krankheit“ auch nicht zu heilen. Die Tarantel „schlug“ vor allem während der Erntezeit des Getreides im Frühsommer „zu“. Die von der Tarantel gebissenen, „le tarantate“ kamen aus vielen Dörfern des Salento. Sie gelangten anlässlich des Patronatsfestes Ende Juni in die Kapelle, waren alle weiß (rein, jungfräulich) gekleidet und erbaten vom Heiligen Paulus, Schutzpatron der Tarantolati, Hilfe und Erlösung, nachdem sie auf Karren von ihren Familien,die zu dieser Gelegenheit die Heilmusikanten anheuerten, nach Galatina verbracht wurden. Alle gemeinsam fuhren zu Tagesanbruch des 28. Juni in die Kappelle des Heiligen Paulus. Eine interessante Ausnahme bei den Konsequenzen des Tarantel-Bisses bildete der Gemeinde- oder Feudalgrund Galatinas. Die Einwohner und Einwohnerinnen waren immun, so die lokale Legende.

Wie gesagt kannte der Tarantelbiss keine medizinisch fundierte Heilung. In der Tat hatte es die Wissenschaft von jeher schwer, das Phänomen zu erklären (und ein solches ist es geblieben, selbst wenn zahlreiche Wissenschaftler in den letzten Jahrzehnten sich diesem Phänomen widmeten und Theorien zu dessen Erklärung aufstellten – es blieben halt nur Theorien). Auch seitens der Botanik kam keine Hilfe. Sämtliche lokal vorkommende Insekten und Spinnentiere wurden auf ihre Gifte untersucht. Keines konnte solch seltsame, anhaltende Besessenheit auslösen. Das einzige „Antidotum venenum“ war die frenetische Musik, der seinerseits obsessive Rhythmus , der die „Tarantate“ zum Tanzen brachte. Nur dank dieses musikalisch-coreutischen Exorzismus befreiten sich die Betroffenen schliesslich von den Konsequenzen des „Bisses der Tarantel“.

Neben dem herkömmlichen Festprogramm, das sich nicht von den zahlreichen unterscheidet, die im Salento stattfinden, gibt es in Galatina jährlich auch eine Demonstration der „Tarantate“. Heute gibt es keine „echten“ Besessenen mehr – falls es je welche gab… Meines Kollegen Sergio Pedio und seinem Buch zufolge „quannu a muru a taranta pizzicava e caruse“ – auf Hochitalienisch: „Quando a Muro (Muro Leccese, kleiner Ort bei Maglie, Prov. Lecce, Anm. die Übersetzerin) la taranta pizzicava le belle ragazze” – oder zu Deutsch: “Als in Muro die hübschen Mädchen von der Tarantel gestochen wurden“, gab es überhaupt keinen wirklichen Biss. Davon will ich aber nicht mehr verraten. Das Buch wurde bereits von mir übersetzt und geht hoffentlich im kommenden Winter in Druck. Nur so viel: Hochinteressant und für jeden Salento-Fan ein Muss!

Aber die Demonstrationen und Vorführungen sind wirklich sehenswert! Extase und Exorzismus pur, begleitet mit virtuoser Musik der Pizzica und viel Show!

Inzwischen ist es Juli geworden im Salento….lesen Sie bald: Mamma, li turisti!!!! Touristeninvasion im Salento – wo die Italiener Urlaub machen.

1 Kommentar:

simona doktor hat gesagt…

sehr interesant,Claudia.
Danke!